Meinung: Wer ist hier dick? Übergewicht ist keine Frage von BMI und anderen Zahlen
Wie definiert man Übergewicht und Adipositas? Wer braucht eine Therapie? Die Diskussion darum, wer "nur" dick und wer krank ist, geht weiter. Den Betroffenen hilft das wenig.
Wie definiert man Übergewicht und Adipositas? Wer braucht eine Therapie? Die Diskussion darum, wer "nur" dick und wer krank ist, geht weiter. Den Betroffenen hilft das wenig.
Schon Asterix und Obelix stritten so erbittert wie unterhaltsam darüber, wer hier eigentlich zu dick sei. Etwas ernsthafter debattiert die Wissenschaft seit Jahrzehnten darüber. Ab wann ist jemand so stark übergewichtig (und so krank), dass er oder sie eine Behandlung benötigt? Oder anders gefragt: Ab welcher Kennzahl ist Übergewicht kein kosmetisches Problem mehr, sondern ein medizinisches? Eine hochkarätig besetzte Expertenkommission hat gerade versucht, das zu beantworten und im Medizinjournal The Lancet Diabetes & Endocrinology eine neue Definition von Adipositas (Fettleibigkeit) präsentiert.
Denn die bisher von Ärzten und Ärztinnen verwendeten Kennzahlen, um gesunde von kranken Dicken zu unterscheiden, sind ungenau. Allen voran der bekannte Body Mass Index (BMI). Sein Vorteil liegt darin, dass er einfach zu berechnen ist (Körpergewicht in Kilo geteilt durch Quadrat der Körpergröße in Metern) und zumindest grobe Anhaltspunkte liefert, wer aus gesundheitlichen Gründen abnehmen sollte. So belegen Studien, dass leicht Übergewichtige mit einem Body Mass Index von über 25 in vielen Fällen nicht so schwer erkranken. Doch insbesondere ab einem BMI von 30, der Grenze für Adipositas, steigt das Risiko für Folgeleiden wie Diabetes Typ 2 oder Herzleiden stark.
Welches Übergewicht ist wirklich riskant?
Bei anderen Details versagt der Index allerdings: Auch durchtrainierte Kraftsportler können laut BMI als übergewichtig oder gar adipös gelten, denn der Index sagt nichts darüber, wie hoch Fett- und Muskelmasseanteil eines Menschen sind. Er gibt auch keine Auskunft darüber, ob es sich beim Körperfett um eher harmloses Unterhautfett an den Oberschenkeln oder um riskantes Fett tief im Bauchinneren handelt, das mit chronischen Entzündungen und Diabetes in Verbindung gebracht wird. So erkennt der BMI oft gerade die nicht, die ein hohes Risiko mit sich herumschleppen – oder definiert Kerngesunde irrtümlich als gefährdet.
Daher empfiehlt jetzt die Internationale Kommission für klinische Adipositas, ein Expertengremium, in dem auch deutsche Wissenschaftler mitarbeiten, eine Neudefinition für Übergewicht und Adipositas. Danach soll künftig neben dem BMI auch etwa der Taillenumfang, der das Bauchfett besser erfasst, berücksichtigt werden. Oder eine direkte Körperfettmessung beim Arzt. Außerdem soll nach weiteren Krankheitssymptomen oder kritischen Blutwerten gesucht werden, um behandlungsbedürftige von "noch gesunden" Dicken zu unterscheiden.
Der Ansatz zielt in die richtige Richtung und könnte helfen, kranke oder gefährdete Menschen besser zu erkennen. In der Praxis wird er aber erst einmal wenig ändern: Die ärztliche Adipositas-Leitlinie für Erwachsene orientiert sich weiterhin am BMI, berücksichtigt aber immerhin auch heute schon die Messung von Bauch- und Hüftumfang.
Nicht jeder mit schwerem Übergewicht bekommt Hilfe
Vor allem aber löst kein noch so genauer Index das Problem, dass hierzulande selbst nachweislich kranke Adipöse zum Teil mit ihren Kilos allein gelassen werden. Zwar gilt eine Fettleibigkeit oder Adipositas laut Weltgesundheitsorganisation inzwischen als eigenständige Krankheit – doch wer in Deutschland adipös ist, bekommt deshalb nicht automatisch eine Behandlung.
Ob eine Krankenkasse zum Beispiel für Bewegungstherapie oder Ernährungsberatung aufkommt, muss individuell beantragt werden. Nicht immer zahlt die Versicherung. Bei schwerer Adipositas haben gesetzlich Versicherte zwar laut Bundessozialgerichtsurteil von 2003 sogar Anspruch auf bestimmte Operationen wie eine Magenverkleinerung. Doch auch das muss – anders als bei anderen Therapien für schwer Kranke – beantragt und von der Kasse im Einzelfall genehmigt werden.
Gewichtsreduzierende Arzneimittel wie die "Abnehmspritze" mit Semaglutid sind selbst bei Adipositas grundsätzlich nicht erstattungsfähig – trotz nachgewiesener Wirkung und ersten positiven Daten zum Gesundheitsnutzen. Paragraf 34 im Sozialgesetzbuch V verbietet den Kassen die Übernahme der Kosten für "Lifestyle"-Medikamente wie Abnehmmittel. Das gilt sogar für Patienten, die an dem erst kürzlich neu aufgelegten "Disease Management Programm" für Adipositas teilnehmen, einem strukturierten ärztlichen Programm, das die Versorgung verbessern soll.
Insofern ist es richtig, wenn Kriterien und Indizes geschärft und verbessert werden. Doch wenn selbst nachweislich kranke Übergewichtige oft nicht behandelt werden, liegt das Problem eher in der Umsetzung der Versorgung in der Praxis.
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